Es ist zehn Minuten nach neun. Es klingelt zwei Mal im Büro der Straßenzeitung TagesSatz. „Ah, das ist Rocky“, bemerkt Oliver Barth ohne dabei aufzusehen. Er ist Vertriebsleiter beim TagesSatz. Längst erkennt er die Verkäufer schon an der Art, wie sie klingeln.
Und er hat Recht. Kurz darauf steht ein Verkäufer in der Tür. Er braucht neue Zeitungen. „Na, Rocky, alles klar?“ wird er freundlich vom Vertriebsleiter empfangen. „Ja, geht schon und selbst?“, raunt es zurück. Die Begrüßung scheint Routine. Schirm und Tasche abgelegt, geht Rocky zielstrebig in die Küche. Es riecht nach frisch gekochtem Kaffee. Rocky aber trinkt Tee. Er setzt Wasser auf. Es kommt selten vor, dass ein Verkäufer sofort auf die Straße zum Verkaufen geht.
Im Aufenthaltsraum nebenan sitzen bereits Werner und Robert. Sie spielen Karten: Mau Mau. Bis zweihundert Punkte. Danach möchte Werner wieder los. Zeitungen verkaufen. „Mittags wirst Du nichts los. Morgens verkauft’s sich besser“, erklärt Werner. Er ist schon lange dabei und weiß, wie der Verkauf auf der Straße läuft. Robert hingegen ist „Dauerpraktikant“. So nennen ihn zumindest alle hier beim TagesSatz. „Eigentlich bin ich Mädchen für alles“, beschreibt er seine Arbeit und wie viel Spaß ihm diese Arbeit macht, steht ihm sogar ins Gesicht geschrieben. Im Aufenthaltsraum steht ein Regal voller Kisten mit Zeitungen, auf denen die Namen der einzelnen Verkäufer stehen. Auf einem kleinen Schrank sind private Fotos einiger Verkäufer aufgestellt. Es sind diese kleinen, intimen Details in diesem Raum, die sofort ein gemütliches und vertrautes Gefühl aufkommen lassen.
„TagesSatz – Das Straßenmagazin“, so heißt die soziale Straßenzeitung für Göttingen und Kassel. Das Magazin erscheint seit 1994 einmal im Monat und versteht sich als Lobby für Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Im TagesSatz wird monatlich über ein Titelthema, soziale, (lokal-)politische und kulturelle Themen berichtet. Die verkaufte Auflage liegt derzeit bei 2.500 Stück pro Monat. Der TagesSatz e.V. ist ein wohltätiger Verein und finanziert sich seit seinem Bestehen unabhängig aus dem Verkauf des Magazins, Werbung und Spendengeldern. Zeitungsverkäufer können diejenigen werden, die über ein geringes Einkommen, wie Arbeitslosengeld II, Sozialgeld und eine Grundsicherungsrente, verfügen. Jeder Verkäufer erhält mit Beginn seiner Tätigkeit einen Ausweis und seinen festen Standplatz sowie zwei Monate lang fünf Exemplare kostenlos als Starthilfe. Ab dem dritten Monat bestimmt jeder Verkäufer die Höhe seiner Bestellzahlen in Eigenverantwortung. Von den zwei Euro des Verkaufspreises eines Magazins auf der Straße behalten die Verkäufer einen Euro für sich. Einmal im Monat findet im Büro ein gemeinsames Treffen der Verkäufer mit Frühstück statt. Hier werden Informationen ausgetauscht, gemütlich zusammen gesessen und die monatlichen Bestellzahlen zusammen getragen. Dem Verkäufer wird ermöglicht, durch eigene Texte und Fotos an der redaktionellen Gestaltung des Magazins mitzuwirken und der Leserschaft ihre Perspektive des gesellschaftlichen Alltags zu vermitteln.
Doch die Arbeit wohltätiger Einrichtungen wie dieser beschränkt sich nicht nur auf den Verkauf der Straßenzeitung. TagesSatz ist auch Anlaufstelle für Menschen in sozialer Not. Betroffene finden hier immer ein offenes Ohr und erhalten Rat bei Problemen mit Ämtern, Krankheit und anderen persönlichen Angelegenheiten. Das gemeinsame Kaffeetrinken und Kartenspielen gehört ebenso wie die redaktionelle und vertriebliche Arbeit zum Alltag der Mitarbeiter. Vor allem ist aber das Zuhören wichtig. „Es ist auch viel Seelsorge dabei“, sagt Oliver Barth. Die Menschen, die an diesem Morgen kommen, haben in den meisten Fällen wenig soziale Kontakte. Über den TagesSatz entstehen Freundschaften, sogar Reisen werden gemeinsam unternommen. Außerdem wird durch den Verkauf auf der Straße die Fähigkeit zur Kommunikation gefördert, neue Kontakte entstehen, soziale Ängste werden abgebaut.
Der TagesSatz verhilft den Verkäufern zu einem geregelten Tagesablauf. Alle Verkäufer weisen darauf hin, wie wichtig dieser Punkt für sie ist. Auch wenn sie sich ihre Arbeitszeit selbst einteilen können, wird ihnen ein Tagesablauf vorgegeben. „Ich habe nicht mehr das Gefühl, in den Tag hineinzuleben und meine Zeit sinnlos zu vertrödeln!“, erläutert Walter, wobei ihm ein kurzes Lächeln über das Gesicht huscht.
Durch selbstständige Arbeit bietet der Verkauf des Magazins die Möglichkeit, eigenes Geld zu verdienen, und so soziale Schwierigkeiten zu überwinden. Darüber hinaus sollen die Verkäufer lernen, mit ihrem verdienten Geld umzugehen.
„Was ich zur Verfügung habe, reicht vorne und hinten nicht!“, sagt Yogi traurig. Mit dem Verdienst des TagesSatz geht es gerade so. Für viele von Armut Betroffene ist der Verkauf der Straßenzeitung die einzige Möglichkeit, etwas dazu zu verdienen. Die kleinen finanziellen Reserven, die durch den Verkauf aufgebaut werden, geben neuen Lebensmut.
In Göttingen gibt es ungefähr 20 Verkäufer. Einer von ihnen ist Jörg, genannt Yogi. Sein Revier ist der Nabel in Göttingen. Eigentlich eine gute Stelle, hier kommen viele Passanten vorbei. Ungefähr acht Stunden am Tag steht er hier. Gleich der erst potentielle Käufer winkt im Vorbeigehen ab, als Yogi ihm eine Zeitung verkaufen will – auch der zweite Versuch scheitert. Die meisten Passanten machen einen Bogen um die Verkäufer und ignorieren sie. Sie weichen dem Blick der Verkäufer gezielt aus. Einige starren Yogi abwertend an. „Es tut weh, wenn die Leute wegschauen!“ Am Anfang hat es ihn große Überwindung gekostet, sich mitten in die Stadt zu stellen und Zeitungen zu verkaufen. „Man outet sich, dass man am Rande der Gesellschaft steht!“, erklärt er. Im Durchschnitt verkauft er acht Zeitungen pro Tag. Meistens sind es Stammkunden, die ihm eine Zeitung abkaufen. Manchmal bekommt Yogi 50 Cent oder einen Euro in die Hand gedrückt, einige wollen gar keine Zeitung. Yogi bettelt nicht. Das ist ihm wichtig. „Ich will mich nicht aufdrängen und ich will keinem meine Zeitung aufdrängen! Ich frage nie nach Spenden!“ Yogi ist sehr stolz auf seine Fotos und Artikel, die in der Zeitung veröffentlicht werden. Er zeigt mit glänzenden Augen, was er zu der aktuellen Ausgabe beigetragen hat. „Das Selbstwertgefühl, das ich erhalte, wenn mich ein Kunde für ein von mir geschossenes Foto lobt oder mich auf einen meiner Artikel anspricht, ist sehr wichtig für mich!“, betont Yogi. Auf seine zahlreichen Bewerbungen erhalte er nur Absagen. Sein Selbstwertgefühl leide extrem darunter. „Geh mal lieber arbeiten!“, brummt ein Mann Yogi an. Yogi arbeitet aber gerade. Ab und zu muss Yogi solche bösartigen und teilweise beleidigenden Sprüche der vorbeigehenden Passanten ertragen. Einmal wurde er sogar mit einer brennenden Zigarette beworfen. Die meisten Leute seien allerdings freundlich und honorieren, dass er einer Tätigkeit nachgeht. Nach ein paar Stunden tun Yogi die Beine weh, er geht auf und ab. „Die Vorbeigehenden unterschätzen häufig, wie körperlich anstrengend unsere Arbeit ist!“ Mittags macht Yogi eine Pause. Er kramt etwas Kleingeld aus seiner Tasche und kauft sich einen Kaffee. Wie ist Yogi zum TagesSatz gekommen? Er hat 17 Jahre in Indien gelebt und war dort selbstständig. Familiäre und finanzielle Gründe zwangen ihn zur Rückkehr nach Deutschland. Ein paar Wochen habe er bei seinen Eltern gelebt, auf Dauer ging das aber nicht. Sechs Wochen war er obdachlos, bis er durch Glück und mit Hilfe seiner Eltern eine kleine Wohnung gefunden hatte. Bei der Ambulanten Hilfe für Wohnungslose erfuhr er vom TagesSatz. Vier Jahre ist er nun schon Verkäufer der Straßenzeitung. Auf die Frage, was Yogi mit seinem verdienten Geld macht, antwortet er: „Ich brauche warme Winterklamotten und feste Schuhe! Krankheit kann ich mir nicht leisten! Wenn noch etwas übrig bleibt, würde ich mir gerne mal ein gutes Fahrrad kaufen!“
Die Menschen, die man beim TagesSatz trifft, beeindrucken mit ihrem Willen, sich nicht mit ihrer Situation zufrieden zu geben, vor allem aber mit ihrem Mut, sich jeden Tag aufs Neue den Blicken und Beleidigungen der Passanten auszusetzen. Und ihr Schicksal zeigt deutlich, wie leicht ein Leben aus der Bahn geworfen werden kann.
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