Es war schon etwas ungewöhnlich. Im Konzertsaal der Musa standen Tische und Stühle. Etwa hundert Leute hatten Platz genommen und warteten. Um 21.00 Uhr betrat Daniel Ryser, der Autor der Slime Biografie, die Bühne und ging an das Mikrofon. In schweizerischem Hochdeutsch zitierte er Slime-Sänger Dirk Jora mit einer legendären Konzertansage aus dem Jahr 1984: „Passt auf, ihr Scheißer – ja? Uns ist das völlig egal, ob jemand aus Berlin kommt, aus Hamburg oder sonst woher. Ist uns völlig scheißegal, verstehst du? Scheißegal, ob jemand schwarz ist oder weiß, scheißegal, ob jemand Türke ist oder Deutscher, scheißegal! Versteht ihr mich, ihr Wichser? Ja? Und all die Leute haben Bock drauf, dass wir spielen. Und ihr kleiner Scheißhaufen werdet dieses Konzert nicht in‘ Arsch machen, sonst gibt es auf die Fresse, so satt und lang, wie ihr noch nie in eurem Leben auf die Fresse gekriegt habt! Klar, oder was?“ Präzise wie ein Faustschlag auf die Nase saß das Zitat – das Publikum war gebannt. Im Kontrast zu konventionellen Lesungen, las der 1979 geborene Autor stehend in Flanellhemd und Sneakern.
Die Idee einer Slime Biografie entstand während einer Recherche über den Kult-Fußballverein F.C. St. Pauli. Dabei hatte Ryser den Sänger der Band kennengelernt – so kam der Stein ins rollen. Das Buch handelt von Punk- und Politikdebatten der Anfangsjahre bis hin zur Gegenwart. Viele Akteure und Zeitzeugen kommen dabei zu Wort: von Schorsch Kamerun über Jan Delay bis hin zu Alec Empire. Etwa ein Jahr brauchte Ryser zum recherchieren, transkribieren, verfassen und auswerten. Herausgekommen ist mehr als eine übliche Band-Biografie, eher ein umfassendes Subkultur-Dokument, das in einem Atemzug mit Jürgen Teipels „Verschwende deine Jugend“ genannt werden kann.
Nach der Leseperformance, setzte sich der Autor auf ein Sofa auf der Bühne. Neben ihm zwei Drittel von Slime: Dirk Jora, Elf und Christian Meves. Neben der Band kam auch das Publikum Wort und stellte Fragen. Beispielsweise erklärte Elf, der Gitarrist, weshalb sie damals wenig mit Alfred Hilsbergs Zick-Zack Label anfangen konnten – sie stehen einfach mehr auf brachialen Rock, als auf Kunst-Studenten Kram. Aus irgendeinem Grunde, saß plötzlich eine Frau aus dem Publikum zwischen Slime und gab hier und da ein Kommentar ab – niemand störte sich daran – so viel Punk-Rock musste sein.
Es folgte das Slime Akustik Konzert – auf Schlagzeug und Bass wurde verzichtet, die E-Gitarren wurden durch akustische ersetzt: Elf und Meves setzten sich auf Barhocker, während der Punk-Hüne Dirk Jora stehen blieb. Ein wohlbekanntes Gitarrenriff erklang, dann setzte Dirks charakteristische Stimme ein: „A.C.A.B.“. Tatsächlich sang er etwas gefühlsvoller als gewöhnlich, dennoch verbog er sich nicht dabei – blieb authentisch. Die Musiker machten keineswegs den Anschein, dass sie müde oder träge geworden sind – immer noch wirken sie energetisch und hungrig. Diese Erkenntnis sollte allerdings nichts Neues sein. Slime bewiesen bereits mit ihrem 2012 erschienen Album „Sich fügen heißt lügen“, in dem Gedichte des im KZ ermordeten Dichters Erich Mühsam vertont wurden, dass sie wieder mit voller Kraft zurück im Geschäft sind, obwohl ihre letzte Studio-Veröffentlichung fast 20 Jahre zurück liegt. Das letzte Stück an diesem Abend war kein geringeres als jenes, das auch den Buchtitel ziert: „Deutschland muss sterben“. Und dann tanzten auch schon zwei Punks zwischen den Tischen einen milden Pogo.
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